thomas lang

t h o m a s l a n g . n e t

Die bergische Mauer

Der 8. Mai ist ein schöner und zugleich trauriger Gedenktag der deutschen Geschichte, weil da 1945 eine monströse Diktatur ihr Ende fand – die Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. 1985 habe ich als 18-jähriger einen Beitrag für die Schülerzeitung zum 40. Gedenktag an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch eine internationale Allianz verfasst. Zum 80. Gedenktag frage ich mich was seitdem anders geworden ist.

Eine lange, hohe Bruchsteinmauer stützt den südlichen Rand des Städtchens Waldbröl im Bergischen Land. Dort bin ich von 1977 bis 1986 zur Schule gegangen. Die Mauer wurde damals gemeinhin „Hitlermauer“ genannt. Auf dem Rücken des Hügels dahinter verrotten die Fundamente einer nationalsozialistischen Schule, die dort einmal gebaut werden sollte. In den Achtzigerjahren tauchte wie von Geisterhand ein Schriftzug auf der Mauer auf: NIE WIEDER KRIEG, stand da in riesigen Buchstaben. Die Mauerschrift sorgte für einen ländlichen Skandal. Entfernt wurde sie nicht.

Der „Reichsleiter der NSDAP und Leiter des Einheitsverbands Deutsche Arbeitsfront“ (Wikipedia) Robert Ley wollte die strukturschwache Region in den 1930er-Jahren entwickeln. Dazu sollte ein Traktorenwerk ebenso wie jene Nazi-Schule dienen. So weit kam es nicht. Die Mauer wurde zu dem beschriebenen Mahnmal für den Frieden. Die Stadt ließ später die großen Buchstaben nachmalen. Sie kamen ihr zur Imagepflege inzwischen zupass. Ob man die Malerei in Zukunft erhalten wird, scheint mir nicht mehr ausgemacht.

Ich war ein Nachfahre jener Kriegsgeneration, beide Eltern Jahrgang 1930, ich kannte ihre Erzählungen und ihr Schweigen. Die unbewusste oder durch Nichterzählen beförderte Weitergabe von Traumata, wie man heute sagen würde, beschäftigte mich. Als junger Erwachsener und frischgebackener Wehrdienstverweigerer litt ich darunter und schrieb darüber. Ich wollte mich dabei nicht über diese Generation stellen, ich wollte mit ihr fühlen. Und eher leise drückte ich aus, dass auch ich mich von ihren Erlebnissen belastet fühlte.

Ich wurde Redakteur der neuen Schülerzeitung tabula rasa. Damals wusste ich nicht, dass Ley auf dieselbe Schule gegangen war wie später ich, nur dass er in der Nähe ein Gut besessen hatte, auf dem mein Vater mit vielen anderen 14- und 15-Jährigen im April 1945 noch für den Krieg trainiert werden sollte.

Jüngste Entwicklungen

Seit 1985 hat sich ja viel geändert, oder? Wir haben so viele Menschen zu Wort kommen lassen, wir haben Denkmäler errichtet und Bronzetafeln gießen lassen, etwa die für die Opfer der Nazis, die von Waldbröl nach Hadamar gebracht und dort ermordet wurden, so unscheinbar neben der Hauptstraße der Stadt gelegen, dass man sie leicht übersieht. Wir haben uns so Vieles angeschaut, haben uns gestellt und sind davongelaufen. Einige von uns haben die Zeit genutzt, die Vergangenheit ihrer Familien zu erfragen oder zu erforschen. Andere wissen bis heute kaum, was ihr Opa in dieser Zeitspanne von zwölf Jahren, die in einem langen Leben doch kurz anmuten kann, getan und wozu er sich bekannt hat. Manchmal forschen andere für sie nach.

Zwei Staaten sind wieder zu einem geworden, und das vereinigte Land hat sich lange bemüht, seine Nachbarn nicht wieder zu erschrecken mit seiner Größe, seiner Finsternis. Nur ist plötzlich, gar nicht so plötzlich, wieder Krieg … in Europa, und der Militarismus kehrt mit gut geölten Gelenken zurück. „Nie wieder Krieg“ klingt bald eher nach einer nostalgischen Erinnerung als nach einem Memento. Manche Journalisten werfen sich mit Wonne auf eine neue martialische Rhetorik Die Mauer stützt den Rand der Stadt.

Ja, und ich will noch zwei Details loswerden, die ich vor vierzig und vor zwanzig Jahren erfuhr. Das eine Detail ist die Kälte in der Erzählung meines Onkels, der nach einem Tieffliegerangriff an einem zerschossenen Wagen vorbeikam und dort Tote erblickte, die nur noch „Gulasch“ waren. Das zweite sind die Tränen in den Augen meines Vaters, als er von der Räumung eines Blindgängers auf einer ortsnahen Wiese sprach und erwähnte, dass die Männer vom Räumkommando gelbe Sterne trugen. Habe ich mir das nur eingebildet?

„Ich weiß gar nicht, wo der jüdische Friedhof ist“, sagte ich im Winter 2024 zu meiner Schwester. „Wir haben in unserer Gemeinde bis 1938 eine Synagoge besessen. Da muss es doch einen jüdischen Friedhof geben.“ – „Der liegt gleich hinter dem evangelischen“, antwortete sie. Wir gingen, am Urnengrab unserer Eltern vorbei, dorthin. Es gibt in der Gemeinde Nümbrecht in Nordrheinwestfalen inzwischen ein Denkmal für die ermordeten Juden (nicht nur) der Gemeinde vor einem kleinen Areal mit historischen Grabsteinen. Von den jüdischen Familien im Ort existiert keine mehr. Nur zwei Menschen, damals Kinder oder Jugendliche, überlebten meines Wissens die Schoa. Einer, Leo Baer, besuchte die Gemeinde in den 1970er-Jahren. Was darüber in der Nümbrechter Chronik zu lesen ist – bereits zu lesen war, als ich dort aufwuchs – klingt versöhnlich.

Als ich Ende 2024 endlich im Internet nachlas, was sich über die jüdischen Gemeinden in Nümbrecht und dem benachbarten Ruppichteroth finden lässt, erfuhr ich, dass auch Leo Baer dasselbe Gymnasium besucht hat wie ich. Während meiner Schulzeit war davon keine Rede.

Vom Dialog der Generationen

Vor vierzig Jahren habe ich über den „Dialog der Generationen“ geschrieben und ihn für sinnvoll befunden. Heute zweifle ich an dem, was da im Lauf von Jahrzehnten eigentlich geredet wurde. Wenn der ganze Scheiß, den wir als solchen erkannt hatten, plötzlich wieder ungeklärt zutage tritt, wenn nicht alle Menschen in gleichem Maße Menschen sein sollen, wenn Vertreibung von Menschen wieder die Fantasien anderer Menschen beflügelt, wenn Menschen beim Feiern verbotene, aber nicht vergessene Grußgesten zeigen und flotte Hasslieder singen, wenn zehn Millionen Deutsche 2024 eine rechtsextreme Partei wählten, frage ich mich, was da im Dialog der Generationen eigentlich weitergegeben wurde.

Um die Bruchsteinmauer mache ich mir keine Sorgen. Sie wird bestimmt hundert Jahre alt. Anders verhält es sich mit der Schrift darauf. Das Wort „nie“, stelle ich mir vor, wird als erstes verschwinden, wenn nicht eine Geisterhand es bald nachmalt. Das ist noch kein „Salonpazifismus“, wie Simon Strauß es nennt. Vielmehr kommt es darauf an, was man aus dem Satz ableitet. Aus meiner Sicht ist er kein magischer Spruch, der alles Böse weghalten soll. Vielmehr verstehe ich ihn Sinn einer moralischen Forderung: denke so, äußere dich so, handele so, dass dein Denken, Handeln und Reden nicht zur Grundlage für Krieg, Mord oder Vertreibung dienen kann. „Nie wieder“ ist nach vorn gerichtet, eine Aktion, keine Verweigerung.

Liebe junge Erwachsene von heute, lasst euch keine Geschichten auftischen. Haltet die Augen und die Ohren offen, die Wahrheit ist erfahrbar. Glaubt nicht, dass mit Ressentiments, mit Gewalt oder bloß hasserfüllten Sprüchen irgendetwas zu eurem Vorteil zu gewinnen wäre. Auch wenn ihr nicht mehr mit Menschen reden könnt, die den Faschismus selbst erlebt haben: Schaut euch noch mal an, wie eine Diktatur kommt und was sie bringt: Tote und Zerstörung, dann noch Verletzte, sonst nichts. Zieht keinen Schlussstrich, es springt sonst jemand darüber. Fragt, sagt, denkt, schreibt.

Artikel für die Schülerzeitung 1985

8. MAI

40 Jahre sind seit dem Ende des (offiziellen) Faschismus in Deutschland vergangen -–Anlaß genug für voraussichtlich zahlreiche Gedenkfeiern und Kundgebungen, deren Thema wohl die üblichen „Erwägungen über Schuld, Scham, Haftung, Verdrängung, Bewältigung“ (so wurde es kürzlich in einem Zeitungsartikel ausgedrückt) sein werden. Es ist sehr schwer, dem Thema noch einen neuen Aspekt abzugewinnen; auch dieser Artikel wird die oben genannten Punkte teilweise streifen. Vor 52 Jahren begann das „Dritte Reich“, vor 40 Jahren war es zu Ende. Wie ist unsere Generation davon betroffen, wenn überhaupt? Die Generation, die zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes heranwuchs, ist heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Zahlreiche Menschen diesen Alters nehmen Einfluß auf uns. In ihrem Unterbewußtsein liegt die ganze Zeit des Faschismus begraben, manches haben sie selbst verbuddelt. Es liegt mir fern, eine ganze Generation als verkappt nazistisch abstempeln zu wollen. Gewiß – viele wurden in den Schulen (manche auch zu Hause) nach nationalsozialistischen Ideen erzogen. Die Ideale dieser Erziehung ruhen in ihren Köpfen, aber nicht unreflektiert, nicht, wie sie eingehämmert wurden, sondern (zumeist) eindeutig bewertet.

Einschneidender noch als diese Erziehung erlebte die Jugend der 30er und 40er Jahre den Krieg. Und auf diese Erfahrung möchte ich hier eingehen. Die meisten Leute sprechen nicht gerne vom Krieg, und wenn sie es tun, so begnügen sie sich mit Allgemeinplätzen. Sie sind froh, „das alles“ hinter sich zu haben, und möchten es vergessen. Es schmerzt sie, daran zu denken. Ich habe mit einigen dieser Kriegsgeneration gesprochen und von ihnen auch individuelle, ganz persönliche Kriegserlebnisse gehört. Ich verstehe, warum sie gern schweigen. Der Krieg hat nicht nur ihre Jugend gefressen, er hat auch ungeheure Zerstörungen in ihrem Innern angerichtet. Ich glaube, für die ganze Generation ist „Unbefangenheit“ ein Fremdwort. Aber all diese Bilder des Grauens, die Angst, das Nicht-Passen-Können in ihnen tradieren sie uns unbewußt, unterschwellig. Und darin liegt eine Gefahr, nämlich, daß wir mit diesen Problemen auch nie fertig werden können, weil sie nicht bewußt werden.

Hier ist meiner Meinung nach der Punkt, an dem der viel geforderte Dialog zwischen den Generationen sinnvoll wäre. Denn fast alles, was uns gesagt wird, ist retrospektiv, im Rückblick auf die Zeit als geschichtliche Epoche, exakt eingrenzbar und rational durchdiskutierbar. Die individuelle Erfahrung hat man aus der Vergangenheit weggeleugnet. Eine Epoche kann man jedoch nicht bewältigen, solange die verdrängte individuelle Erfahrung die Kommunikation zwischen den Generationen prägt.

Man sollte Zerstörungen nicht unter der Hand weitergeben.

Der Essay erschien am 8.5.2025 zuerst im Literaturportal Bayern.

Gebrochenes Herz

Am 16.7.23 las ich aus »Freinacht« und sprach mit den Teilehmerinnen und Teilnehmern einer Schreibwerkstatt von Fabienne Pakleppa ( Münchner TheaterAtelier ) über das Buch und über meine Arbeit. Eine Teilnehmerin, Christiane Samara, fertigte während des Workshops eine Handarbeit an. Ein Foto ihrer Arbeit schickte sie mir ein paar Tage später per Mail. Dieses beeindruckende Bild möchte ich mit euch teilen. Sie schrieb dazu:

„….. am gebrochenen Herzen der jugendlichen Kinder hängen die Fragen herunter …..“

(c) Christiane Samara

Vier Abende in der Favorit Bar

Ein diskursives Projekt von Thomas Lang (Schriftsteller), Christian Schüle (Philosoph) und Thomas Thiede (Künstler) mit Gästen.

Idee des MODIProject ist die interdisziplinäre Vernetzung von Menschen und Institutionen auf der Folie des literarischen Werkes Moby-Dick von Herman Melville (1851).

Der bis heute aktuelle Jahrhundertroman aus der Epoche der aufbrechenden Moderne und Industriellen Revolution beschreibt und reflektiert zahlreiche Themen, die uns gegenwätig weiter und verschärft umtreiben – Interkulturalität, Verhältnis Mensch und Natur, Ästhetik als moralische Kategorie, Handwerk versus industrielle Produktion, Legitimation von Gewalt, Identität, Motivation von Rachekreisläufen und mehr.

Ausgehend von einem künstlerischen, mithin zweckfreien Blick auf die Fülle an Themen, möchten wir ein Netzwerk aufbauen, indem wir Gäste zu performativen Gesprächen einladen.

Auftakt Montag, 21.3.2022 170 Jahre Moby-Dick! Wir ehren ein großartiges Stück Literatur mit Lesung, Gespräch und Musik. Wir fragen, warum uns Melvilles Roman bis heute in den Bann schlägt. Gespräch: Thomas Lang, Christian Schüle, Thomas Thiede und das Publikum. Lesung: Matthias Hirth Musik: Evi Keglmaier und Anton Gruber

Seehoheit Montag, 28.3.2022 Thomas Lang im Gespräch mit Benedikt Funke (Deutsches Museum, Abteilung Schifffahrt) über Sklaven und Handel, Recht und Flüchtende auf dem Meer.

Rache Montag, 25.4.2022 Christian Schüle im Gespräch mit N. N. über Rache, Hass und die Frage nach Strafe und Schuld.

Weiß Montag, 2.5.2022 Thomas Thiede im Gespräch mit Dr. Theres Rohde (Direktorin des MMK Ingolstadt) über das Weiß aus der Perspektive der Kunst. Musik: Evi Keglmaier und Anton Gruber

Beginn ist jeweils um 20.30 Uhr (Einlass 20 Uhr). Der  Eintritt ist frei. Ort ist die Favorit Bar in der Damenstiftstr. 12, München. Bitte beachten Sie die geltenden Infektionsschutzbestimmungen.

Was wir jagen, wenn wir Moby Dick jagen

Wie sich die Lesarten des vor 170 Jahren erschienenen Romans von Herman Melville verändert haben, vom allegorischen oder symbolischen in eine sehr konkrete, auf unseren Umgang mit den Walen und der Natur als solcher bezogene, war Gegenstand eines kurzen Vortrags, den ich am 3. Juli beim Mahler-Forum in Klagenfurt gehalten habe. Für Gustav Mahler war die Natur ein zentraler Bezugskpunkt seiner Kompositionen.

Mahler hat sich vor 120 Jahren ein »Komponierhäuschen« oberhalb der Wörthersees bauen lassen, in das er sommers bereits am frühen Morgen ging, um in der Waldeinsamkeit seine Musik zu schaffen. Direkt neben diesem Haus fand der 2. Teil des Forums statt. Es ging darum, „unsere eigene Position in dem, was wir »Natur« nennen, neu zu erfahren“. Das Programm des Forums findet sich hier.

Klagenfurter Literaturkurs

1999 war ich Teilnehmer beim Klagenfurter Literaturkurs, 2021 war ich einer der Tutoren. Das ist eine besondere Schreibwerkstatt, weil es dabei nicht um Übungen oder das Entwickeln von Ideen geht. Vielmehr senden die Bewerber einen Prosaext von etwa zehn Seiten Länge ein. 3 erfahrene Autoren, in diesem Jahr Annette Hug, Ludwig Laher und ich, begutachten die Texte, befragen und beschnüffeln sie von allen Seiten, packen sie an ihren Schwachstellen und versuchen sie aufs Kreuz zu legen – heben aber auch ihre Schönheiten und Stärken hervor und fördern ihre Qualitäten.

Das hat mir großes Vergnügen bereitet und ich durfte lernen, dass es da draußen immer noch Menschen gibt, denen das Schreiben sehr wichtig ist. Wichtig für mich war 99 neben den Tutorengesprächen, den Lesewettbewerb als Zuschauer schon mal kennen lernen zu dürfen. Als ich 2005 selbst am Wettbewerb teilnahm, waren mir das Studio, die Wege, die Atmosphäre vertraut. Das reduzierte den Stress. Unsere jungen Autoren konnten den Bewerb diesmal leider nur im Public Viewing ansehen. Die Jury war im Studio isoliert …

Wer wissen will, wie die jungen Leute den Kurs erlebt haben, findet kurze Interviews in Format »Sprachzimmer« des Robert-Musil-Museums Klagenfurt hier.

Emily Dickinson – Serie vs Spielfilm

Auf artechock ist eben meine Betrachtung über die völlig unterschiedlichen Filme erschienen, die Emily Dickinsons Leben erzählen – A Quiet Passion von Mike Davies und Dickinson von Alena Smith. Beide könnten gegensätzlicher kaum sein. Cunst tritt an gegen Comedy – nur was folgt daraus?

»… In der nächsten Szene steigt Emily zum Tod in die Kutsche. Sie trägt ein knall­rotes Kleid und der Tod, ein ultra­läs­siger Typ mit Zylinder und Brille (gespielt vom Rapper Wiz Khalifa), sagt ihr, dass sie die einzige aus der Familie ist, über die man in zwei­hun­dert Jahren noch sprechen wird …« Mehr lest ihr hier.

»Freinacht« – Das Hörspiel

Am Samstag, dem 8. Mai, wird die Hörspielfassung meines Romans »Freinacht« gesendet. Ich glaube, dass ein spannendes und bewegendes Ohrendrama entstanden ist, und wer möchte, kann am Samstag den Bayern-2-Knopf an seinem Radio drücken. Online geht natürlich auch.

Samstag, 8.5.21 ab 15.05 Uhr: »Freinacht« – Das Hörspiel

Anschließend könnt ihr mich im Gespräch mit Thomas Kretschmer über das Hörspiel und die wahre Begebenheit, auf der es fußt, hören: „Der Wirklichkeit gerecht werden“ (bis 16.23 Uhr)

Darum geht es (In den Worten des BR):

Bei der Geburtstagsfeier der 16-jährigen Elle auf dem stillgelegten Bahngelände einer Kleinstadt stößt ihre Clique auf die Leiche eines erfrorenen Mannes. Die Situation eskaliert, aus einem Witz wird eine Tat, die Jugendlichen prügeln auf den Toten ein, machen Fotos und Filme. Diese Nacht ändert ihr Leben schlagartig. Vor allem für Elle stellen sich Fragen. Wer war der Mann? Wie konnte es so weit kommen? Als die Tat auffliegt und ein medialer Sturm folgt, ist in Elles Gedankenwelt der Tote bereits zum ständigen Begleiter geworden, mit dem sie stille Zwiesprache hält. Nach einer wahren Begebenheit entwickelte Thomas Lang ein Hörspiel über Ziellosigkeit und Verantwortung, Schuld und Sühne. Freinacht ist ein dunkles Gesellschaftsspiel. Es zeigt die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, wie das Erwachsenwerden zur existenziellen Herausforderung wird – aber auch, dass die Wahl besteht, eine falsche Entscheidung nicht das weitere Leben bestimmen zu lassen.

En Passant – Performance

Am 29.4.21 haben Christina Bitter und ich zusammen eine Aktion in Bamberg gemacht. »En Passant« legte den Akzent auf das Entstehen von Bildern und Texten und thematisierte die Verbindung-Trennung zwischen Performierenden (in einem geschlossenen Laden) und Passierenden (im öffentlichen Raum davor).

Marie Castner schrieb dazu im Fränkischen Tag (5.3.12, der Gesamtartikel ist leider hinter der Paywall versteckt):

« Von den zwei Schlagworten ausgehend folgen die beiden im künstlerischen Prozess ihren spontanen Eingebungen – assoziativ. „Aus dem Moment heraus“, nennt es Lang. So entstehen Strich für Strich, Wort für Wort ihre Werke. Ist Lang mit seinem Text fertig, druckt er ihn aus und hängt ihn neben von Bitters Bild. Im leeren Ladenraum hinter ihn liegen die fertigen Arbeiten. […]

„Es ist ein Work in Progress“, sagt von Bitter. „Es geht weniger um das Ergebnis, sondern die Menschen sollen an unserer Arbeit teilhaben. Wir wollen eine Kommunikation mit den Bürgern herstellen.“ Wenn in Pandemie-Zeiten schon kein direkter Austausch möglich ist, dann eben ein indirekter: Das Schaufenster isoliert, schützt aber auch alle Beteiligten. Gleichzeitig bleiben die Kulturschaffenden sichtbar. »

Brief an meine Eltern

Ende April 2020 schrieb ich den dritten und letzten Essay, in dem ich mich mit der ersten Zeit der Pandemie befasst habe. Mein Vater ist wenige Wochen darauf – nicht an Covid – verstorben. Der Brief erschien im Magazin Hundertvierzehn des Fischer-Verlags.

Liebe Eltern,

dies ist der erste Brief, den ich euch seit etwa vierzig Jahren schreibe. Vor über dreißig Jahren haben unsere Wege sich getrennt, ich bin am Main und später an der Isar gelandet, ihr wohnt seit Ewigkeiten nicht allzu weit vom Rhein. Dort harrt ihr aus, du, Vater, seit neunzig Jahren in demselben Ort. Ich kann mich noch erinnern, ich war zehn, dass wir ein Telefon bekamen. Bis dahin kam die Nachbarin, wenn jemand anrief, und holte uns. Heute liegt ein Glasfaserkabel in eurem Keller, der Router hängt an der Wand, doch ihr wollt kein Internet. Ihr braucht kein Smartphone, das Festnetz und der Fernseher reichen euch aus. Und mir reichten drei, vier Besuche jedes Jahr – für ein paar Tage, seit achtzehn Jahren meistens mit Familie oder wenigstens den Kindern. Du, Mutter, wurdest neunzig, wir feierten im Januar mit Kindern, Enkeln und dem Urenkel. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie sich bald alles ändern sollte. Die Feier wollten wir nicht auslassen, weil es die letzte sein könnte. Aber das war auch bereits seit Jahren so.

Zum nächsten neunzigsten im Mai wird es nun keine Feier geben. Die Blumenbeete blieben dieses Frühjahr liegen, es wächst, was wächst. Ihr bleibt im Haus, da lebt ihr sowieso ganz vorwiegend, seit das Auto nur noch in der Garage steht. Der Pflegedienst kommt jeden Tag, meine Geschwister bringen Lebensmittel und helfen euch im Alltag. Kontaktbeschränkungen sind euch nicht neu. Ihr sagtet mir am Telefon, dass ihr keine Angst vor dieser Krankheit hättet. Ihr erwartet ja den Tod und vielleicht haben wir Kinder mehr Angst vor eurem Sterben als ihr selbst. Als ihr aufwuchst, herrschte Krieg, ihr habt schlimmere Tage gesehen. Vielleicht rührt daher eure Gelassenheit oder eher, will mir scheinen, Ergebenheit, eure Haltung, gegen die ich schon oft protestiert habe, man müsse alles nehmen, wie es kommt.

Jetzt ist es also so gekommen. Wir sind beschränkt, das ist für die, die nach euch kamen, ein seltsames Gefühl. Wir kriegten die mildeste Ahnung von dem, was Mangel heißen könnte, was Ausgangssperre, was willkürliches Sterben. Ich kenne das von euren Geschichten, und ohne etwas in der Art erlebt zu haben, spüre ich: Es ist kein Vergleich. Doch etwas schwingt, ihr redet plötzlich wieder davon, wie der Krieg begann, wie die Geschäfte sich leerten, wie die Leute verschwanden.

Wir dagegen erleben ein Als-ob. Ich kenne Leute, die seit vielen Wochen quasi eingesperrt sind – wir haben Freunde in Mailand, in New York, in Paris. Ich weiß, dass sie die Sense lauter sausen hören als wir, dass Tausende Gestorbene sich als Zahl auf einen senken können wie ein schweres nasses Tuch. Zum Glück sind sie alle „safe“; persönlich kenne ich keinen, weiß von keinem, der oder die schwer krank oder tot wäre. Das Sterben ist so unsichtbar, dass schon behauptet wurde, die Rate hätte sich nicht mal erhöht. Gerade lesen wir: Sie ist gestiegen. Es sterben Abertausende mehr als üblich. Sie bleiben nur unseren Blicken entzogen. Die gruseligen Lkw-Kolonnen, die man von Italien zeigte (ihr habt’s im Fernsehen auch gesehen), die in Plastik gehüllten Toten, die man in New York mit Gabelstaplern in die Kühlwagen hob, werden wohl das ikonografische Bild der Seuche bleiben.

Aber hat nicht der Ausnahmezustand auch etwas Angenehmes? Die wirtschaftliche Bedrohung hat viele schon erfasst, für viele steht sie jedoch noch unscharf im Hintergrund. Das menschliche Kalkül: vielleicht entkomme ich, vielleicht geht es ja gut. Das trägt uns weiter. (Ihr würdet eher sagen: es kommt, wie es kommt.) Nie zuvor bin ich so gern durch die Stadt geradelt wie heute, fast jeden Tag für ein paar Stunden ins Büro. Nie habe ich die reine Luft lieber eingesogen, den blanken Himmel am Tag wie in der Nacht betrachtet, nie war die Ruhe einer Metropole schöner und schmerzhafter in Einem.

Seit Wochen unterrichte ich eure jüngste Enkelin und lerne selbst manches dabei. Es ist eine Herausforderung, weil viel Arbeitszeit verloren geht bzw. ich meinen Tag verlängern muss, bis ich abends erschöpft bin. Aber es ist auch eine Köstlichkeit, so nah und ausgedehnt mit meinem Kind zusammen zu sein, von seinen Stimmungswechseln, seinem Seelenleben so viel mehr mitzukriegen als sonst. Ich denke jetzt manchmal daran, wie ich, im gleichen Alter, bei euch (damals bei uns) daheim am Küchentisch saß und meine Aufgaben machte.

Dann wieder überfällt es mich, besonders morgens, bevor die anderen aufstehen: die Welt ist aus den Fugen. Sie könnte noch viel mehr aus den Fugen gehen, sie könnte untergehen, wie wir sie kennen. Die Toten sind real. Ich denke wieder an euch, und wie gefährdet ihr trotz allem seid. Ich denke zurück an meine erste Tätigkeit, als ich euer Haus verließ – meinen Zivildienst in einem Altersheim. „Seniorenwohnpark“ nannte sich das.

Ich erinnere mich gut, wie es war, wenn jemand von den alten Leuten auf unserer Station damals starb. Und es fasst mich an, ich kriege weiche Knie, wenn ich mir Heime vorstellen muss, deren Bewohner gerade zu Dutzenden weggerafft werden. Als würde einer durch die Flure gehen und links und rechts mit einem Fingerschnippen die Köpfe hintüberkippen lassen auf ihre Brust. – Genauso falsch fühlt es sich an. Deshalb mache ich alles mit, was uns jetzt „zugemutet“ wird. Ich will, dass es sofort und für immer aufhört. Sicherheit ist immer auch die Sicherheit der anderen. Sie ist es zur Zeit in ganz erster Linie. Ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, der so denkt. Ich schreibe es euch, ohne zu wissen, ob ihr so denkt, ob es für euch diese Bedeutung hat. Das ist mehr ein Als-ob.

Bleibt behütet, liebe Eltern. Ich verstehe nun etwas mehr von euch, von eurer alten Angst, von der Beschränkung, mit der ihr aufgewachsen seid. Ich hoffe, wir sehen uns noch in diesem Jahr.