Ende April 2020 schrieb ich den dritten und letzten Essay, in dem ich mich mit der ersten Zeit der Pandemie befasst habe. Mein Vater ist wenige Wochen darauf – nicht an Covid – verstorben. Der Brief erschien im Magazin Hundertvierzehn des Fischer-Verlags.
Liebe Eltern,
dies ist der erste Brief, den ich euch seit etwa vierzig Jahren schreibe. Vor über dreißig Jahren haben unsere Wege sich getrennt, ich bin am Main und später an der Isar gelandet, ihr wohnt seit Ewigkeiten nicht allzu weit vom Rhein. Dort harrt ihr aus, du, Vater, seit neunzig Jahren in demselben Ort. Ich kann mich noch erinnern, ich war zehn, dass wir ein Telefon bekamen. Bis dahin kam die Nachbarin, wenn jemand anrief, und holte uns. Heute liegt ein Glasfaserkabel in eurem Keller, der Router hängt an der Wand, doch ihr wollt kein Internet. Ihr braucht kein Smartphone, das Festnetz und der Fernseher reichen euch aus. Und mir reichten drei, vier Besuche jedes Jahr – für ein paar Tage, seit achtzehn Jahren meistens mit Familie oder wenigstens den Kindern. Du, Mutter, wurdest neunzig, wir feierten im Januar mit Kindern, Enkeln und dem Urenkel. Wir hatten keine Vorstellung davon, wie sich bald alles ändern sollte. Die Feier wollten wir nicht auslassen, weil es die letzte sein könnte. Aber das war auch bereits seit Jahren so.
Zum nächsten neunzigsten im Mai wird es nun keine Feier geben. Die Blumenbeete blieben dieses Frühjahr liegen, es wächst, was wächst. Ihr bleibt im Haus, da lebt ihr sowieso ganz vorwiegend, seit das Auto nur noch in der Garage steht. Der Pflegedienst kommt jeden Tag, meine Geschwister bringen Lebensmittel und helfen euch im Alltag. Kontaktbeschränkungen sind euch nicht neu. Ihr sagtet mir am Telefon, dass ihr keine Angst vor dieser Krankheit hättet. Ihr erwartet ja den Tod und vielleicht haben wir Kinder mehr Angst vor eurem Sterben als ihr selbst. Als ihr aufwuchst, herrschte Krieg, ihr habt schlimmere Tage gesehen. Vielleicht rührt daher eure Gelassenheit oder eher, will mir scheinen, Ergebenheit, eure Haltung, gegen die ich schon oft protestiert habe, man müsse alles nehmen, wie es kommt.
Jetzt ist es also so gekommen. Wir sind beschränkt, das ist für die, die nach euch kamen, ein seltsames Gefühl. Wir kriegten die mildeste Ahnung von dem, was Mangel heißen könnte, was Ausgangssperre, was willkürliches Sterben. Ich kenne das von euren Geschichten, und ohne etwas in der Art erlebt zu haben, spüre ich: Es ist kein Vergleich. Doch etwas schwingt, ihr redet plötzlich wieder davon, wie der Krieg begann, wie die Geschäfte sich leerten, wie die Leute verschwanden.
Wir dagegen erleben ein Als-ob. Ich kenne Leute, die seit vielen Wochen quasi eingesperrt sind – wir haben Freunde in Mailand, in New York, in Paris. Ich weiß, dass sie die Sense lauter sausen hören als wir, dass Tausende Gestorbene sich als Zahl auf einen senken können wie ein schweres nasses Tuch. Zum Glück sind sie alle „safe“; persönlich kenne ich keinen, weiß von keinem, der oder die schwer krank oder tot wäre. Das Sterben ist so unsichtbar, dass schon behauptet wurde, die Rate hätte sich nicht mal erhöht. Gerade lesen wir: Sie ist gestiegen. Es sterben Abertausende mehr als üblich. Sie bleiben nur unseren Blicken entzogen. Die gruseligen Lkw-Kolonnen, die man von Italien zeigte (ihr habt’s im Fernsehen auch gesehen), die in Plastik gehüllten Toten, die man in New York mit Gabelstaplern in die Kühlwagen hob, werden wohl das ikonografische Bild der Seuche bleiben.
Aber hat nicht der Ausnahmezustand auch etwas Angenehmes? Die wirtschaftliche Bedrohung hat viele schon erfasst, für viele steht sie jedoch noch unscharf im Hintergrund. Das menschliche Kalkül: vielleicht entkomme ich, vielleicht geht es ja gut. Das trägt uns weiter. (Ihr würdet eher sagen: es kommt, wie es kommt.) Nie zuvor bin ich so gern durch die Stadt geradelt wie heute, fast jeden Tag für ein paar Stunden ins Büro. Nie habe ich die reine Luft lieber eingesogen, den blanken Himmel am Tag wie in der Nacht betrachtet, nie war die Ruhe einer Metropole schöner und schmerzhafter in Einem.
Seit Wochen unterrichte ich eure jüngste Enkelin und lerne selbst manches dabei. Es ist eine Herausforderung, weil viel Arbeitszeit verloren geht bzw. ich meinen Tag verlängern muss, bis ich abends erschöpft bin. Aber es ist auch eine Köstlichkeit, so nah und ausgedehnt mit meinem Kind zusammen zu sein, von seinen Stimmungswechseln, seinem Seelenleben so viel mehr mitzukriegen als sonst. Ich denke jetzt manchmal daran, wie ich, im gleichen Alter, bei euch (damals bei uns) daheim am Küchentisch saß und meine Aufgaben machte.
Dann wieder überfällt es mich, besonders morgens, bevor die anderen aufstehen: die Welt ist aus den Fugen. Sie könnte noch viel mehr aus den Fugen gehen, sie könnte untergehen, wie wir sie kennen. Die Toten sind real. Ich denke wieder an euch, und wie gefährdet ihr trotz allem seid. Ich denke zurück an meine erste Tätigkeit, als ich euer Haus verließ – meinen Zivildienst in einem Altersheim. „Seniorenwohnpark“ nannte sich das.
Ich erinnere mich gut, wie es war, wenn jemand von den alten Leuten auf unserer Station damals starb. Und es fasst mich an, ich kriege weiche Knie, wenn ich mir Heime vorstellen muss, deren Bewohner gerade zu Dutzenden weggerafft werden. Als würde einer durch die Flure gehen und links und rechts mit einem Fingerschnippen die Köpfe hintüberkippen lassen auf ihre Brust. – Genauso falsch fühlt es sich an. Deshalb mache ich alles mit, was uns jetzt „zugemutet“ wird. Ich will, dass es sofort und für immer aufhört. Sicherheit ist immer auch die Sicherheit der anderen. Sie ist es zur Zeit in ganz erster Linie. Ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, der so denkt. Ich schreibe es euch, ohne zu wissen, ob ihr so denkt, ob es für euch diese Bedeutung hat. Das ist mehr ein Als-ob.
Bleibt behütet, liebe Eltern. Ich verstehe nun etwas mehr von euch, von eurer alten Angst, von der Beschränkung, mit der ihr aufgewachsen seid. Ich hoffe, wir sehen uns noch in diesem Jahr.